Wie Ihr der Häufigkeit meiner Posts entnehmen könnt, beschäftigen mich gerade viele Dinge. Darüber zu schreiben, hilft mir, Klarheit zu gewinnen. Eine der Fragen, die mich beschäftigt, ist: wie soll ich weiter mit der Situation umgehen?
Eines ist klar: mit einem „Bitte nicht stören Schild“ an A´s Tür ist es nicht getan. Auch wenn ich froh darüber bin, dass er da Initiative ergriffen hat. Aber eigentlich sind hereinstürmende Pflegerinnen eins unserer kleineren Probleme. Vielleicht habe ich mich der Sache auch deshalb zugewandt, weil es wenigstens etwas ist, das sich vergleichsweise einfach regeln lässt.
Unangenehme Begleiterscheinungen
Was mich viel mehr beschäftigt, ist der Schlamassel, den ich vor mir sehe. Dass A vorgestern so unverblümt um Rettung gebeten hat, ist für mich kein Zufall. Er spürt deutlich, dass die Entscheidung, ins Heim zu gehen mit vielen unangenehmen Begleiterscheinungen verbunden ist. So hat er nach der anfänglichen Quarantäne jetzt beispielsweise erste Mitbewohner kennengelernt. Auf der Station befinden sich zwar einige jüngere Bewohner (die tendenziell eher zu ihm passen würden), aber leider sind die psychisch ziemlich stark eingeschränkt.
Es geschieht also noch etwas, was ich habe kommen sehen und doch nicht habe abwenden können: da sitzt er nun im Rollstuhl mit seinem beweglichen Geist und seiner überdurchschnittlichen Intelligenz, wird zwar körperlich versorgt, aber hat nach eigener Aussage noch keinen einzigen Menschen getroffen, der ihn interessieren würden.
Lebendig begraben, kommt mir in den Sinn. Für wie lange will er so leben?
Eine Frage der Umgebung
Schon vor Jahren hatte ich die Krise bekommen, weil er regelmäßig in eine Tageseinrichtung ging, wo er jeden Tag mit psychisch Kranken zusammen war. Nichts gegen psychisch Kranke, versteht mich nicht falsch – aber nicht gerade die beste Umgebung, um selbst gesund zu bleiben. Er gehörte einfach nicht dorthin.
Ich habe jetzt also diesen hoch intelligenten, einsamen und auf Pflege angewiesenen Mann da sitzen, und ich kann ihm ansehen, dass es ihm etwas ausmacht. Von wegen „A ist sehr glücklich im Heim“, wie meine Mutter kürzlich noch von seiner Schwester zu berichten wusste. Weit entfernt davon.
Ziel erreicht?
Ja. Das innere Kind in ihm scheint sein Ziel erreicht zu haben: es wird endlich versorgt; es braucht sich keine Sorgen mehr machen.
Aber hat er sein Ziel wirklich erreicht? Er sagt ja klar, dass er möchte, dass ich ihn rette. Warum wohl?
Weil ich ihm etwas viel Wichtigeres gebe als die rein physische Versorgung. Ich sehe ihn. Ich verstehe ihn. Ich schätze ihn. Ich nehme ihn ernst. Mir liegt er wirklich am Herzen.
Meister der Verstellung
Dass viele andere ihn nicht sehen, kann man ihnen noch nicht mal ankreiden. Er ist Meister der Verstellung; er zeigt den anderen, was sie in ihm sehen wollen. Und wenn es sein muss, verdreht er sogar die Augen und gibt den Inbezilen.
Das waren berechtigte Überlebensstrategien. Und das respektiere ich. Nur leider führt ihn das an dem vorbei, was er sich wirklich ersehnt. Echte Fürsorge. Echte Begegnungen. Freundschaft. Mutterliebe. Dass man vor allem Letzteres nicht nachholen kann, dürfte den meisten von uns sonnenklar sein.
Haare zu Berge
Und so stehe ich da und raufe mir die Haare, weil ich nicht weiß, was ich mit diesem Kerl machen soll. Ich sehe, was er treibt, wie er alte Muster reinszeniert. Ich sehe, wie er sich selbst nicht liebt und unter Wert verkauft. Wie er sich selbst schädigt. Ich sehe, wie er in alte Zustände zurückwandert. Manches davon sage ich ihm auch. Und doch …
Letztlich muss sein großer Wunsch unerfüllt bleiben. Ich kann ihn nicht retten, und wenn er sich das auch noch so sehr wünscht. Ich habe ihm viel, viel Hilfe angeboten über die Jahre. Ich habe Informationen beschafft, die ich für nützlich und relevant hielt. Er hat all dies abgelehnt. Alles, was er wollte, war in Sicherheit zu gelangen. Das hat er nun erreicht.
Vorhersehbar
Er ist in einem stabilen, verlässlichen, vorhersehbaren System gelandet. Er hat jederzeit Zugriff auf Hilfe. Er drückt das Knöpfchen – jemand springt. Ein wahrgewordener Traum. Und doch …
Ich denke, er spürt die Wahrheit. Dass er einen hohen Preis bezahlt. Und doch nicht wirklich bekommt, was er sich erträumt.
Ich verkörpere noch immer den Gegenentwurf zu seinem Leben. Ich halte fest an dem Glauben, dass Heilung möglich ist. Allen Unkenrufen zum Trotz. Dass ein anderes Leben möglich wäre. Und diese Position vertrete ich auch. Das ist, was ich tun kann. Den Raum der Möglichkeiten offen zu halten.
Hindernisse über Hindernisse
Doch Teil der Tragik ist, dass er es mir, dem heiß ersehnten Helfer, immer, immer schwerer macht. Die Hindernisse, die er auftürmt, werden immer größer. Heute habe ich erfahren, dass Besucher im Heim nicht nur einen Mundschutz brauchen und einen Schnelltest absolvieren müssen, sondern dass sie auch nur eine Stunde bleiben dürfen. Das heißt für uns: solange sich an Corona nichts Grundlegendes gewandelt hat, scheiden Treffen im Heim aus.
Mein Problem ist auch, dass meine Leichtigkeit vergangen ist. Ich sehe ihn in diesem Zimmer sitzen und fühle mich gnadenlos auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ich spüre die Schwere der Situation, und ich frage mich, ob es auch ein Teil seiner Energie ist, die mich aktuell so runterzieht. Es fühlt sich an wie Blei.
Abgrenzung
Das wiederum wirft Fragen der Abgrenzung auf. Mir ist noch immer nicht klar, wie ich mich zu dem Ganzen stellen soll. Wann, wie und wo ich mich schützen möchte oder sollte. Welche Kanäle ich zumachen sollte oder möchte, um mich selbst zu schützen. Zwischendurch habe ich ganz klare Fluchttendenzen. Dann wiederum siegt die Empathie, und ich will ihn in seiner Suppe nicht sitzen lassen, so hausgemacht sie auch sein mag.
Drastischer Einschnitt
Tatsache ist: der Umzug war ein drastischer Einschnitt, und er verändert unsere Beziehung zutiefst. In gewisser Weise habe ich das Gefühl, dass die Arbeit auf seiner Seite gerade erst beginnt. Und so habe ich auch ihm gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass ich den Eindruck habe, unsere Situation habe sich radikal umgekehrt. Nun ist meine Seite der Medaille eher der ausgleichende Pol, und bei ihm herrscht Chaos und Verwerfung.
Er ist nun derjenige, der Raum schaffen und halten muss, damit wir einander weiter begegnen können. Und ich stehe außen vor und kann relativ wenig tun.
Die Fee, die Wunder vollbringt
Was „falsch“ (oder genauer gesagt problematisch) an seinem Wunsch sein sollte, von mir gerettet werden zu wollen, hat er noch nicht verstanden. In den Momenten habe ich das Gefühl, ein Kind mit großen, erwartungsvollen Augen vor mir zu haben. Es ist reines, magisches Denken, und ich bin die Fee, die ein Wunder vollbringt.
Wenn das kein bitteres Erwachen wird.