Eben hatten A und ich ein aufschlussreiches, aber nicht unbedingt erfreuliches Gespräch. Denn innerhalb kürzester Zeit zeichnet sich eine Dynamik ab, die ich habe kommen sehen und die ich die ganze Zeit gefürchtet habe.
Dazu müsst Ihr wissen, dass A ein echter Einsiedler ist. Er liebt es, stundenlang alleine vor sich hin zu sinnieren und braucht nicht viele Menschen um sich. Ich, so sagt er immer, bilde eine rare Ausnahme.
Die letzten Tage mit dem Umzug und all den Änderungen waren verständlicherweise extra anstrengend. Nur leider findet A auch jetzt keine Gelegenheit, sich auszuruhen. Morgens die Pflege, viermal am Tag Essen (einschließlich Kaffee und Kuchen), dann die Putzfrau, dann schließt der Haustechniker den Fernseher an (was er ja Gottseidank nicht jeden Tag machen wird). Und in Kürze warten Ergotherapie, Krankengymnastik und soziale Geselligkeit. Von Arztbesuchen ganz zu schweigen.
Krank sein ist ein Vollzeitjob. Sogar mich würde das überfluten. Nur bin ich im Unterschied zu A nicht bereits nach einem einstündigen Besuch völlig fertig.
Passgenau?
Ich habe mich immer gefragt, wie A in solche Strukturen passen soll. Oder, um es etwas krasser zu formulieren: wir er da überleben soll.
Ich sehe ihn dort überhaupt nicht. Das entspricht ihm nicht. Nur scheine ich die einzige zu sein (außer ihm selbst), die das so sieht. Oder die es irgendwie kümmert.
Im Wesentlichen sagte er heute, dass er nicht damit rechne, fortan noch genug Ruhe und Zeit für sich selbst zu haben. Hervorragend bei einer bereits vorhandenen Dauer-Fatigue. Und extrem gesundheitsförderlich. Überforderung vorprogrammiert.
Er meinte heute, es täte ihm total leid, weil ich das immer abbekäme. Wenn alle Leute mit ihren Ansprüchen bzw. ihrem Programm endlich durch seien, komme ich. Nur dass A dann bereits viel zu erschöpft ist. Und da ich Verständnis habe, lasse ich ihn.
Spielregeln
Doch er fühlt sich in einer Zwangslage: einerseits ist er auf die Pflege des Systems angewiesen, und im Gegenzug muss er dessen Spielregeln gehorchen.
Nicht mal seine eigene Bettwäsche darf er noch benutzen. Weil das eine „Spezialbettwäsche“ ist. Warum die spezial ist, habe ich nicht genau verstanden. Sie scheint offenbar besondere Griffe zu haben, um jemanden im Notfall schnell abtransportieren zu können.
Ich finde das entmenschlichend. Entpersonalisierend. Und noch dazu bevormundend. Deine persönlichen Gegenstände kannst du beim Pförtner abgeben. Deine persönlichen Vorlieben auch.
Herzlichen Glückwunsch.Genau das wollte ich nicht, denn das ist mein persönlicher Alptraum. Und genau deswegen hatte ich erwogen, mich zu trennen. Weil ich keine Lust hatte, diese Restriktionen mit auszubaden.
„Wusst ich´s doch“
Uns ist selten damit geholfen, nachher zu sagen: „Wusst ich´s doch.“ Doch das, was mich erschreckt, ist die Geschwindigkeit, mit der sich das Problem bestätigt.
Noch etwas anderes spielt eine Rolle: ich bin zwar keine Pflegekraft, aber ich bin ausgebildete Sozialarbeiterin, und auch wenn ich den Beruf vor vielen Jahren verlassen habe (weil mir der Anteil der sozialen Kontrolle nicht behagte), weiß ich, wie Sozialarbeiter und Pädagogen ticken.
So beschrieb A heute lebhaft, dass er oft versucht habe, seinen Pflegekräften und zuständigen Betreuern zu sagen, was er wünscht und braucht. Verminderter sozialer Kontakt? Auf gar keinen Fall! Weniger Aktivitäten? Um Gottes willen, da vereinsamen Sie ja!
Wenn mich eins an dieser Berufsgruppe auf die Palme bringt, ist es die Tendenz, besser zu wissen, was der Klient braucht, als er selbst.
Entschlossenheit
Und ich spüre, wie Entschlossenheit in mir keimt: ich werde nicht dasitzen und zuschauen, dass seine Gesundheit wegen dauerhafter Reizüberflutung noch weiter den Keller runtergeht. Ich gedenke unbequem zu sein, wenn es sein muss.
Was nicht ganz einfach ist aus der Entfernung und mit meinem mangelnden offiziellen Status. Als Ehefrau hätte ich deutlich mehr Gewicht. Hurra, es leben die traditionellen Strukturen!
Auswege
Was mir das Gespräch heute deutlich gemacht hat: wir haben es beide kommen sehen. Nur hat es A nicht an diesem Schritt gehindert. Vermutlich, weil er keinen anderen Ausweg sah.
Für mich ist klar, dass er eine Pflege braucht, die sich auf ihn einstellt. Und nicht umgekehrt. Wie wir das realisieren könnten, ist mir zwar noch schleierhaft. Aber die Vision ist da.
Ich habe ihm gesagt, dass ich an seiner Seite stehe. Und dass ich mich für ihn auch einsetzen werde, falls notwendig.
Hurra. Saturn vom Feinsten.