Wir alle haben eine Kernwunde. Sie zieht sich durch unser Leben und kehrt immer wieder. Ich habe in den letzten Tagen verstanden, worin meine Kernwunde besteht. Es ist der Schmerz darüber, nicht gesehen zu werden.

Aus der Psychologie ist inzwischen bekannt, dass Menschen zu Projektionen neigen. Wir glauben in anderen etwas zu sehen, was sie in Wahrheit gar nicht sind. Sie bieten uns lediglich eine Angriffsfläche für unsere Vergleiche. Genauer gesagt dienen sie uns als Leinwand unserer eigenen Gedanken, Vorurteile und Perspektiven.

Das heißt im Alltag, dass wir – solange wir uns unserer eigenen Projektionen nicht bewusst sind – gewissermaßen mit einer gefärbten Brille durchs Leben gehen. Wir sehen die Menschen nicht für das, was sie sind, sondern wir schreiben ihnen alle möglichen Eigenschaften zu – basierend auf unseren persönlichen Erfahrungen.

Doch was, wenn jemand gar nicht merkt, dass er projiziert? Er wird dir gegenüber steif und fest behaupten, die Wahrheit zu sehen.

Urteile

Es kann extrem schmerzhaft sein, verkannt zu werden. Oder falsch beurteilt. Wie oft unterstellen wir anderen böse Absichten, die überhaupt nicht der Realität entsprechen? Und wie oft werden uns selbst Dinge unterstellt, die schlichtweg falsch und unzutreffend sind?

Doch am meisten schmerzen diese Fehleinschätzungen (um nicht zu sagen Urteile) von Menschen, die uns nahestehen. Oder nahestehen könnten. Am meisten schmerzt es, verurteilt zu werden von denen, die es eigentlich besser wissen müssten.

Wenn nicht diese verdammte Brille auf der Nase wäre. Aber sag denen mal, dass sie eine Brille tragen. Sie zeigen dir, wenn du Pech hast, noch einen Vogel. Und was ist das Ende vom Lied? Du traust deiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr. Obwohl du der Wahrheit oft näher kommst, als es ihnen lieb ist.

Geschlossen

Mir ist klar geworden, dass ich es mir nicht mehr leisten kann und will, Menschen gegenüber offen zu bleiben, die nichts besseres zu tun zu haben, als mich zu verurteilen. Die weder meine Beweggründe noch die Wege kennen (oder zumindest kennen lernen wollen), die mich so handeln lassen, wie ich handle.

Es schmerzt so sehr, nicht gesehen zu werden. Stattdessen interagieren deine Gegenüber mit einer fiktiven Figur. Und sind dann wütend über ihre eigene Kreation. Mit dir selbst hat das oft reichlich herzlich wenig zu tun.

Was ebenfalls schmerzt, ist die Sprachlosigkeit, die entsteht, wenn du siehst, was sie nicht sehen wollen. Und sie schlichtweg leugnen. Ja mehr noch, wenn sie dich zum Problem, zum Täter erklären. Oder – noch schlimmer – zum Lügner.

Schuldige

Es ist so einfach, einen Schuldigen zu finden. Dann muss man sich nicht selbst im Spiegel betrachten. Der hässlichen Fratze ungeschminkt ins Gesicht blicken.

Es ist so einfach, unsere eigenen Schatten anderen zuzuschreiben. Sündenböcke nennt man das.

Will ich nicht. Brauch ich nicht. Ich mache nicht länger den Fußabtreter.

Und erlaube mir, mit Genuss den Stecker zu ziehen.