Rückschritte und Traumabewusstsein
Es hat mich erwischt. Nein, nicht Corona. Oder vielleicht doch – durch die Hintertür. Meine uralten Depressionen sind wieder da. Meine ohnmächtige Wut. Meine Hoffnungs- und Sinnlosigkeit. Und während all dies geschieht, schaut ein Teil von mir zu. Der, der versteht, was passiert. Der, der Traumabewusstsein entwickelt hat.
Die ersten paar Wochen der Selbstisolation haben wir als Familie ganz gut gemeistert. Wir hielten den Ball flach, es gab keine größeren Auseinandersetzungen. Alles in allem war ich stolz darauf, wie gut wir es hinbekamen.
Dann, so etwa nach vier Wochen, begann ich Veränderungen an uns wahrzunehmen. Wir fielen plötzlich in alte, für mich sehr schmerzhafte Verhaltensweisen zurück. Verhaltensweisen, die wir in den letzten Monaten überwunden hatten.
Mit diesen Rückschritten kam auch mein Frust zurück. Und der weitete sich auf die Kinder aus.
Regression
Gerade stehe ich an einem Punkt, wo ich extrem müde bin. Ich spüre die alte Last wieder, die ich jahrzehntelang geschleppt habe. Und mir wurde klar, dass wir in die Regression gewandert sind.
Regression ist ein Begriff aus der Therapie und bezeichnet den Rückschritt in alte, sichere (vertraute) Verhaltensweisen.
In dem Sinne ist nichts „falsch“ mit uns. Wir benehmen uns wie gesunde Menschen angesichts einer äußerst belastenden psychischen Situation. Wir schalten auf „Überleben“. Wir schalten zurück in den bewährten, wenn auch nicht idealen Sicherheitsmodus. Wir gehen rückwärts.
Das allein löst helle Begeisterung in mir aus. Ha. Ha.
Innere Vision als Leitfaden
Mir wird bewusst, wie sehr ich all die Jahre auf etwas hingearbeitet habe. Eine innere Vision. Ein Wissen darum, was auch noch möglich ist.
Gerade scheint diese Vision wieder in weite Ferne gerückt zu sein. Die Dinge erscheinen mir schwer und mühselig. Ich erlebe Widerstände und Hindernisse. Ich fühle mich wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Und das ist ein altes, ein sehr altes Gefühl.
Falsch zu sein in dieser Welt. Den Sinn des Ganzen nicht zu sehen. Mich zu fragen, was zum Teufel mich hier in dieses Leben gebracht hat.
Manchmal weiß ich auch nicht, wessen Gefühle ich eigentlich fühle. Ein Teil davon ist erkennbar mein eigener; doch manchmal glaube ich auch, das ich als Empath in die kollektive Gefühlslage hineinfalle und dann meine, es sei meins.
Das schreit nach Abgrenzung und Unterscheidung.
Ringen
Doch ich merke auch, dass ich in meinem Ringen nicht alleine bin. Die letzten beiden Tage hat einer meiner beiden spirituellen Lehrer erzählt, wie er plötzlich die Hoffnung und das Vertrauen in den spirituellen Prozess verlor. Er hat in den letzten Wochen vier ihm nahestehende Menschen verloren, und er sieht gezeichnet aus. Müde. Deprimiert.
Einige haben von einer spirituellen Prüfung gesprochen. Vielleicht der Schwierigsten, die wir je zu bestehen hatten. Und ich sage ganz deutlich: Nein, ich mache das Ganze nicht mit links.
Im Großen und Ganzen schlage ich mich wacker. Ich schaffe es meist relativ schnell, wieder in meine Mitte zu kommen. Aber es gibt aktuell genug Dinge, die mich aus der Fassung bringen. Die mich angreifen. Schwächen. Die mir entgegenstehen.
Das ist nichts für schwache Nerven.
Und ich sage ehrlich: ich habe von diesem Leben mal wieder gestrichen die Schnauze voll. Vom Abstrampeln. Vom Erreichen wollen. Davon, die Zukunft bereits sehen und fühlen zu können, obwohl sie physisch noch in weiter Ferne ist.
Life sucks
Life sucks right now. Es fordert mich heraus. Bringt mich an meine Grenzen. Und darüber hinaus. Am laufenden Meter.
Ich muss alles anwenden, was ich in den letzten Jahren gelernt habe. Alles. Ich muss mir klar machen, dass wir gerade Traumareaktionen zeigen und dass es – den Umständen entsprechend – „normal“ und „gesund“ ist, so zu reagieren.
Ich bin unsäglich müde. Ich spüre den langen Weg, der hinter mir liegt. Wie viel er mich gekostet hat. Auch, wie weit er mich gebracht hat. Aber es ist mir nicht in den Schoß gefallen.
Harte Arbeit
Ich habe hart gearbeitet, um hier und heute zu stehen, wo ich stehe.
Die Welt war nicht freundlich zu Menschen wie uns. Denen, die aus dem Rahmen fallen. Denen, die auf merkwürdige Weise „anders“ ticken. Denen, die hochsensibel oder medial begabt sind.
Mich erschüttert, welch harte Zeit meine Kinder sich zum Großwerden ausgewählt haben. Mein Sohn weist das Konzept, dass seine Seele diese Entscheidung bewusst getroffen haben könnte, entrüstet von sich. Doch es ändert nichts daran, dass ich daran glaube.
We were made for this time, schrieb kürzlich jemand.
Hell, yes.
Ich spüre, dass es wahr ist, und gleichzeitig hasse ich, dass es so ist.
Das ist so gar nicht spirituell, nicht wahr? Aber es ist menschlich.
Der Mensch in mir hasst die aktuellen Beschränkungen. Reisen und fremde Länder sind ein essentieller Teil von mir, und mein Mars (meine Tatkraft) steht im Sternzeichen Wassermann. Ich will vorwärts. Ich will Freiheit. Ich will das Neue.
Der still gewordene Teil in mir sieht den Sinn. Nimmt an.
Und während ich das schreibe, schreit mein Ego: „Schnauze, Seele! Ich hab die Faxen dicke.“
Es ist das Ringen um den Sinn. Um die Mitte. Das Ringen um diese innere, unantastbare Stille.
Nein, ich bin nicht dauerhaft erleuchtet. Vielleicht nicht mal stellenweise.
Aber ich weiß, wo sich dieser Platz befindet.
Im Herzen ist Ruhe
Im Herzen komme ich zur Ruhe. Auch wenn es mich manchmal enorme Willenskraft kostet, einfach wieder an diesen Platz zurück zu gehen.
Die Verwirbelungen im Außen können uns gefangen nehmen und gefangen halten. Das spüre ich dieser Tage sehr deutlich.
Ein erster Schritt für mich war, die Medien bis auf ein Minimum abzuklemmen. Damit verschwinden ganz viele negative, verführerische, auslaugende Energien.
Und plötzlich ist Ruhe.
Es bleibt ein Weg, und ein harter Weg. Aufgegeben habe ich nie. Auch wenn ich viele Male Lust dazu hatte.
Nachtrag – eine Stunde später
Ich habe gerade mit A geskypt. Ich habe ihm mein ganzes „Weltleid“ geklagt, mich beschwert, aufgeregt, Unsinn geredet und innerhalb von zwei Minuten schallend gelacht. Wenn jemand sich deinen gequirlten Unsinn liebend anhört (und du durch seine Brille siehst, dass es Unsinn ist und du aufhörst, dich selbst so ernst zu nehmen), verliert alles seine Schärfe.
A hat mich angemessen bedauert, mir mein volles Recht auf unglücklich sein zugestanden und dabei die ganze Zeit unverschämt gegrinst.
Du kannst dich noch so albern und kindisch verhalten oder fühlen – du weißt, es ändert nichts an der Liebe. Dann entsteht Freiheit, du selbst zu sein. Und es ist wunderbar, so unperfekt sein zu dürfen.