Die letzten zwei Wochen waren haarig. Also, haarig-haarig. So haarig wie seit zwei Jahren nicht mehr. Überhaupt scheinen diese tiefen Prozesse regelmäßig im Herbst losgetreten zu werden, in zweijährigem Abstand. Begonnen hatte es 2014 mit unserem ersten Kuss. 2016 hatten wir die erste dicke Trennung. Und 2018 gings erneut um die Wurst.

Nachdem ich im September massiv Rückenwind gespürt hatte, schlug der Wind im Oktober drastisch um. Der November war nicht lustig. Als A letzte Woche für eine vorbereitende Untersuchung im Krankenhaus verschwand (ohne Telefon oder anderweitige Verbindung zur Außenwelt) und mich im Tal der Ahnungslosen zurückließ, wusste ich nicht, ob sie ihn dabehalten würden – für eine nicht gerade banale Operation.

So verbrachte ich zwei Tage in kompletter Ungewissheit. Nicht nur führte mir das wieder einmal vor Augen, dass ich keinen offiziellen „Status“ in seinem Leben besitze. Nein, das triggerte so ganz nebenbei auch noch Erinnerungen, als mein Jüngster ins Krankenhaus musste und ich nicht wusste, ob ich ihn noch einmal lebend wiedersehe.

So fühlte ich mich auch jetzt. Denn obwohl die geplante OP (die A sich sehnlichst wünscht!) mittlerweile als Routine-Eingriff gilt, sah ich mich mit der Möglichkeit konfrontiert, dass er vielleicht nicht wiederkommt.

Dark night of the soul – 3. Auflage

Da hatte ich sie – meine dritte „Dark night of the soul“. Und wie die Jahre zuvor, konnte ich auch diesmal nicht mit A über meine Erfahrungen sprechen. Während er die anderen Jahre in der Kontaktlosigkeit verschwunden war, stehen wir zwar diesmal durchgehend in Kontakt, aber ich sehe mich trotzdem nicht in der Lage, meine Erfahrung zu teilen. Mir verschlägt es die Sprache.

Und auch jetzt – da er das Krankenhaus sicheren Fußes wieder verlassen hat – fühle ich mich noch in einem seltsamen Niemandsland. Die OP ist jetzt für Januar angesetzt, was bedeutet, dass ich dann erneut vor der gleichen Ungewissheit stehe.

Dauerverbindung offline

Irgendwie ist unsere „Dauerverbindung“ verloren gegangen. Sonst war er immer sehr anwesend. Ich musste nur an ihn denken, und schon sprang der Funke über.

Nun fühle ich mich massiv auf mich selbst zurückgeworfen, und er vermutlich auch. Das, was uns am meisten und leichtesten verbindet – Berührung – ist bis auf weiteres nicht möglich. Ich rechne genauer gesagt damit, ihn mehrere Monate nicht sehen zu können. Bis dahin kann viel bergab gehen.

Bewegungslosigkeit

Er tut kaum noch etwas. Jegliche Bewegung wird ein Kraftakt. Jedes Gespräch. Jeder Input. Jedes Essen. Nur Berührungen, sagt er, ermüden ihn nicht.

Unser Kommunikationsfenster schrumpft immer weiter. Unsere Möglichkeiten. Am Ende bleibt uns wahrscheinlich nur noch Körper- und Augenkontakt. Und wenn ich mir seinen rapiden Abbau in diesem Jahr ansehe, so erscheint auch das Heim nicht mehr aus der Luft gegriffen.

Haltlos

Was ich feststelle: er hat mir all die Zeit sehr viel Halt gegeben. Den spüre ich nicht mehr. Und das bringt mich ganz schön ins Schleudern – zumal auch in meinem familiären Umfeld immer wieder kräftig Trubel herrscht. Stattdessen herrscht Trauma – auf allen Fronten.

Fronten. Genau. Mark Wolynn, ein amerikanischer Traumaforscher, behauptet ja, es gebe Traumasprache. Unsere Sprache verrate die verdeckten Traumen, die uns umtreiben. Heute nacht hatte ich plötzlich Angst zu verhungern. Macht wenig Sinn, wenn ich mir meine aktuelle Lebenssituation ansehe. Und doch kommt so viel Zeug hoch … Riecht verdammt nach 2. Weltkrieg.

Überlebenskampf

Ich weiß von einer Reihe guter Freunde, dass auch sie gerade ringen. Ich kämpfe. Täglich. Wie ein Löwe, wie mein Mann sagen würde. Ich beiße mich durch, mit dem Mut der Verzweilfung. Ich ringe ums (emotionale) Überleben. Dieses Jahr war eins ums andere Mal grenzwertig und hat die meisten von uns an ihre Grenzen gebracht. Ich wollte einige Male nur noch aufgeben.

Derweil frage ich mich, was das mit A und mir zu bedeuten hat. Er sagte kürzlich, er glaube inzwischen, dass dieses Leben so für ihn vorgesehen war. Er nahm sogar das Wort Karma in den Mund. Und wenn ich mir seine Sterne ansehe, ergibt das sogar einen Sinn.

Zeit

Ich weiß nicht, wie lange das Ganze noch gehen wird. Wenn es bald zu Ende wäre – sei es durch eine OP oder durch die bereits erwähnte Euthanasie – würde es mich nicht wundern. Zeit bekommt eine andere Bedeutung. Und auf merkwürdige Weise scheint die Zeit stillzustehen. Nichts bewegt sich mehr vorwärts. Höchstens abwärts. Typisches Saturn-Thema. Ein Zeichen der Zeit.

Tod war immer ein zentraler Teil von A´s Geschichte. Und so sehe auch ich mich damit konfrontiert. Mit der Endlichkeit. Und mit dem, was wir jenseits unserer menschlichen Hüllen sind. Oder auch nicht.

Planlos

Nichts funktioniert mehr. Keine Strategien, keine Planung. Es ist, wie es ist. Nicht mehr und nicht weniger.

Mit seinem potenziellen Ableben konfrontiert zu werden, hat mich verändert. Wie sehr, kann ich noch nicht genau sagen.

Nur um sicher zu gehen (und wider besseres Wissen) habe ich nochmal meine Chancen geprüft, ihn zu besuchen. Die Hürden sind gigantisch. Was für mich ein Zeichen ist, dass es nicht sein soll.

Zurückgeworfen

Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen. Wenn ich ehrlich bin – es fällt mir schwer, in mir selbst Lebensfreude zu finden. Mit unseren begrabenen Zukunftsträumen ist ein Licht in mir erloschen.

Vielleicht bin ich aufgerufen, es alleine – ohne ihn – in mir anzuzünden. Wer weiß.

Über diese Phase des Dualseelenprozesses habe ich noch in keinem Ratgeber gelesen. Und so betrete ich Neuland. Planlos. Nur ich und mein Kopf und mein Herz. Und diese merkwürdige Verbindung zu diesem merkwürdigen Menschen, die momentan entknotet durch die Lüfte schwebt, wie ein verloren gegangener Faden …