Mein gestriger Abend war intensiv. Ich traf mich mit einigen Freunden, um das Buch „Der Herr der Fliegen“ zu diskutieren. Ein Buch über Krieg, Tod und unsere dunkle, animalische Seite.
Wer das Buch wie ich aus der Schule kennt, der weiß, dass darin eine Gruppe Schüler während des zweiten Weltkrieges durch einen Flugzeugabsturz auf einer Südseeinsel strandt. Innerhalb kurzer Zeit entwickelt sich ihr „zivilisiertes“ Zusammensein in eine mörderische Treibjagd. So waren auch die gestrigen Gesprächsthemen naheliegend: Krieg, Trauma, Unterdrückung, Masken der Scham, Gewalt, Angst, Tod. Nicht gerade leichte Kost.
Und obwohl das Buch bereits in den 50er Jahren von einem ehemaligen Soldaten geschrieben wurde, wurde mir klar, wie brandaktuell es ist. Und da ich viel im Traum verarbeite, wachte ich heute morgen mit zwei glasklaren Empfindungen auf. Die erste saß in meinem Körper, und es war das Bewusstsein extremer – und ich meine: extremer! – Anspannung. Um nicht zu sagen Schockstarre. Und die zweite war mehr ein Gedanke und lautete: Ich möchte mich sicher fühlen.
Kriegsmodus
Mir selbst ist mit der Zeit deutlich geworden, dass sich meine Seele offenbar bewusst eine strategische Stelle ausgesucht hat. Und mir ist klar geworden – körperlich klar geworden – dass sich meine Familie noch immer im Kriegsmodus befindet. Leben oder Tod. Das mag etwas dramatisch klingen, ist aber durchaus wörtlich gemeint.
Unser Zusammenleben ist von zahlreichen, massiven Konflikten geprägt. Und das trotz all der Jahre Therapie, Selbstfindung und Selbstheilung. Wir sind verseucht mit Trauma, Missbrauch, Angst und Schockstarre.
Was mir dabei auch klar geworden ist: solange wir diese ererbten Traumen, diesen erlernten Zustand des permanenten Alarms und der Kampfbereitschaft (oder sollte ich eher sagen -notwendigkeit?!) nicht aus unseren Körpern bekommen, solange können wir als Familie, ja als Menschheit nicht genesen.
Es ist so leicht, in Schuldzuweisungen zu verfallen. „Mein Partner hat …“. „Meine Eltern haben …“ Wir können in unserem eigenen (engeren oder weiteren) Familiensystem stecken bleiben, oder wir treten einen oder zwei Schritte zurück und betrachten das Große Ganze. Und dann sehen wir, dass Krieg orchestrierter Massenmissbrauch ist, befeuert durch Angst und nichts als Angst. Für die Soldaten im zweiten Weltkrieg (die man in den Gehorsam gezwungen hat wie die englischen Elitestudenten im „Herrn der Fliegen“) gab es kein Entrinnen. Sie hatten keine Wahl. Sie konnten kämpfen, sich erschießen lassen oder eine Desertion versuchen – die ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls den Tod oder im „besten“ Fall soziale Schande einbrachten.
Hundertfache Reinszenierung
Es hat lange gedauert. Aber inzwischen spüre ich den Schockzustand, die Angst, die Lähmung, die noch immer in meinem Körper sitzt. In meinem, in dem meines Partners, in dem meiner Kinder. In dem meiner Eltern. In dem Körper der allermeisten. Wir spielen und spielen immer wieder das alte, ungelöste Drama. Und so langsam begreife ich, wie das „Spiel“ geht.
Begriffen, wirklich begriffen habe ich es erst durch hundertfache Reinszenierung unserer familiären Vergangenheit. Inzwischen kann ich sagen, mit authentischem Stolz sagen: Ich spüre endlich die Entzündung in mir, die Scham, das Brennen. Den Flächenbrand, der noch immer nicht geheilt und gelöscht ist. Das habe ich freigelegt, und es war echte Knochenarbeit. Ich kann es wahrnehmen, anschauen, aushalten. Es brennt scheußlich, und es erfordert viel, viel Trauerarbeit. Aber die Wunde ist freigelegt. Bereit zur Reinigung. Bereit zur Heilung.
Das tut umso mehr Not, als unser deutsches Trauma (und nicht nur unseres!) dieser Tage global neu entflammt wird. Sie alle schütten Öl ins niemals vollständig erloschene Feuer. Die Wunde der Nationen schwärt.
Die einzige Chance, diesen neuerlichen Flächenbrand einzudämmen, sehe ich in unserer inneren Heilung. Und das muss oder kann nur jede/r Einzelne tun.
Als Therapeutin widme ich schon seit einiger Zeit der Traumaheilung, vor allem durch Körperarbeit. Doch durch die eigene, unmittelbare Erfahrung begreife ich immer mehr, wie die Dynamiken wirken. Ich spüre es in mir. Ich verkörpere es. So wird außen zu innen und innen zu außen.
Das Gift ausleiten
Mir ist heute klar geworden, dass mein Mann und ich dieses Kriegstrauma beide (!) aus unseren Körpern ausleiten müssen. Aus unseren Körpern, unseren Gedanken und unserem Fühlen. Aus all unseren Seinsschichten. Andernfalls wird es uns weiter verseuchen, unsere Kinder und alle, die nach uns kommen. Es ist an der Zeit, die Waffen niederzulegen und uns dem „Feind“ vorsichtig anzunähern. Vielleicht stellt er sich am Ende sogar als Seelengefährte heraus.
Das ist starker Tobak und eine große Aufgabe. Aber es ist der einzige Weg. Zur Wurzel vorzudringen. Die Zeit der Symptombekämpfung ist vorbei. Ich bin Trümmerfrau, wie meine Ahninnen. Und ich befinde mich mitten im Großputz.
Packen wir´s an!