Bewusstsein ist manchmal ein höchst zweischneidiges Schwert. Oder sagen wir besser: eine äußerst unangenehme Angelegenheit. Zumal wir einmal gewonnenes Bewusstsein nicht mehr verlieren. Was wir einmal gesehen haben, sehen wir immer wieder. Was wir einmal begriffen haben, bleibt uns erhalten.
Das ist Segen und Fluch zugleich. Manchmal wünsche ich mich in selige Ahnungslosigkeit zurück. Vor allem, wenn ich wieder mal im Auge des Sturms stehe.
Ich habe schon an verschiedenen Stellen erwähnt, dass Twin Flames m.E. einer Mission folgen und dass Heilung ein großes Stichwort ist. Mir selbst ist in den letzten Jahren äußerst schmerzhaft bewusst geworden, in welch dysfunktionalem Großsystem ich beheimatet bin. Und das umfasst nicht nur meine eigene Familie, sondern auch die meines Mannes und die von A. Von meiner Nation ganz zu schweigen.
Es ist eine Binsenweisheit, dass Gleiches sich anzieht. Und so wird es nicht weiter verwundern, dass schon bald tiefe Gemeinsamkeiten zwischen uns allen deutlich wurden. Nicht nur im Positiven. Sondern auch in unserem Familienerbe. In unseren gemeinsamen Themen.
Scham, unser verbindendes Element
Ein zentrales Thema, das uns alle drei verbindet, ist Scham. In einem Buch, das ich gerade lese, unterscheidet die Autorin zwischen bewusster und unbewusster (abgewehrter) Scham. Mein Dilemma besteht darin, dass ich den Bereich der unbewussten Scham weitgehend verlassen habe. Doch nicht immer habe ich meine Schamgefühle im Griff. Auch ich gebe noch immer eigene Scham weiter und nehme die Scham aus meiner Umgebung auf. Denn Scham ist ansteckend. Man könnte fast sagen: ein sich selbst verstärkendes System.
Die Weitergabe passiert mir immer dann, wenn der Druck zu groß wird und ich den Schmerz nicht mehr (aus)halten kann. Aber im Unterschied zu früher bekomme ich es mit. Sehr bewusst sogar. Schmerzlich bewusst. Nicht immer in der unmittelbaren Situation, aber spätestens, nachdem die große Emotionswelle abgeflacht ist.
Damit habe ich einerseits die süße Ahnungslosigkeit der Schamleugnung verlassen. Denn Scham ist ein natürliches und wichtiges menschliches Gefühl – solange sie überschaubar bleibt. Da Scham aber selbst unter Therapeuten bis heute ein vernachlässigtes Thema ist, ist kompetente Hilfe nicht leicht zu finden. Also versuche ich selbst, die Dinge zu lösen, zu klären und zu verstehen. Das gelingt mir mal mehr, mal weniger gut.
Toxische Scham überwinden
Das ist echte Knochenarbeit. Denn überwunden habe ich meine toxische Scham noch nicht. Vielmehr stecke ich in dieser höchst unbehaglichen Spalte zwischen sehr bewusstem Spüren und fortgesetzter Fragezeichen, wie sich dieser Berg ererbter Scham wirklich und dauerhaft heilen lässt.
So finde ich mich häufig in einer weiteren, doppelt unangenehmen Situation wieder. Scham hat die Eigenart, uns zum Verstummen zu bringen. Andererseits bin ich aber oft diejenige, die die Schamdynamik in meinem Umfeld anspricht und erläutert. Anders gesagt, bin ich die erste in meinem Umfeld, die sich diesem Thema aktiv stellt.
Wenn es mir die Sprache verschlägt
Doch manchmal verschlägt es auch mir die Sprache. Wenn ich dann gleichzeitig Betroffene und Aufklärerin sein soll (z.B. weil mein Partner versucht zu verstehen und nach einer Erklärung verlangt), fühle ich mich überfordert. Dann denke ich an Chiron, den verwundeten Heiler aus der griechischen Mythologie. Er war ein begnadeter Heiler, doch seine eigene Wunde überwand er nie.
Mich treibt und treibt und treibt es. Ich will verstehen und ganz werden. Ich will die Gifte herauslösen, ihnen ihre Macht nehmen. Doch der Weg hindurch ist oft grauenhaft. Vor allem wenn wir uns vor Augen führen, dass toxische Scham über Generationen angehäuft und weitervererbt wird. Da sind sie wieder, die Altlasten. Berge davon. Manchmal weiß ich nicht, wo ich beginnen soll.
Missbrauch und Gewalt
Meine Seele hat sich ein hochgradig schambelastetes Umfeld ausgesucht. Missbrauch, Gewalt, fortwährende Grenzverletzungen. Das hinterlässt Spuren. Spuren, die ich immer schmerzlicher und klarer erkenne. Spuren so schmerzlich, dass es mir manchmal fast den Atem verschlägt.
Niemand sieht die Menschen, die er liebt, gerne leiden. Also treibt es mich weiter in Richtung Heilung.
Scham ist ein solches Tabu, dass es noch immer schwierig ist, kompetente Hilfe zu finden. Und so halte ich es – in leicht abgewandelter Form – mit einem Ratschlag, den Autoren häufig hören. „Schreibe das Buch, das du selbst immer lesen wolltest.“
Das gleiche gilt für mich als Heilerin. Da die Hilfe, die ich selbst so dringend benötigt hätte, nicht zu finden war, habe ich beschlossen, selbst die Lösung zu finden, um sie anschließend an andere weiter zu geben. „Werde zur Therapeutin, die du selbst gebraucht hättest.“
Darin liegt der Sinn für mich in dieser Unerträglichkeit. Diesem sehenden Schmerz. Der schlimmer geworden ist in dem Maße, wie mein Bewusstsein gewachsen und mein Herz offener geworden ist. Ich begreife, welche Qualen Jesus erlitten haben muss. Aus freien Stücken! Er hat unsere Unwissenheit gesehen und unsere unerlösten Altlasten auf sich genommen. Damit hat er den Weg gebahnt, dass wir es ebenfalls tun können.
Wunden heilen
Verstehen und anerkennen sind wichtige Schritte. Das Verheilen der Wunde hingegen dauert länger. Für mich ist es ein jahrelanger Prozess. Doch ich bin sicher, irgendwann kenne ich die Antwort. Und dann werde ich sie in die Welt hinaustragen. Wege, die andere bereits beschritten haben, sind um ein Vielfaches einfacher zu gehen.
Bücher zum Thema
Wer sich näher für das Thema interessiert, findet in folgenden Büchern einen guten Einstieg.
Stephan Marks: Scham – die tabuisierte Emotion
Udo Baer, Gabriele Frick-Baer: Vom Schämen und Beschämtwerden