Zufälle gibt es ja bekanntlich nicht mehr für mich. Jedenfalls flatterte mir heute vormittag – wie passend! – ein Artikel über Polyamorie ins Haus. Was meine Aufmerksamkeit fesselte, war nicht der Artikel, sondern eine Anmerkung der Person, die ihn geteilt hat. Sie wies darauf hin, wie viele Leser diese Lebensform in den Kommentaren als „krank“ bezeichneten.

Sehen wir uns also einmal unsere Urteilsfähigkeit an. Oder auch das, von dem ich glaube, dass es ein entscheidender Teil der „Twin Flame Mission“ ist. Es geht um die Transformation von Glaubenssätzen.

Glaubenssätze sind Überzeugungen, die wir entwickelt haben und von denen wir oft meinen, sie seien „die Wahrheit“. Dieser Wahrheitsanspruch ist jedoch das, was uns Probleme bereitet. Im Kleinen wie im Großen. Genauer gesagt: das Verteidigen unseres Wahrheitsanspruchs. Dafür ziehen wir sogar in den Krieg.

Konflikte der Werte

Oder wie ein Coach es einmal schlichter sagte: meist erleben wir Wertekonflikte. Ein Wert ist etwas, was wir hochhalten. Dem wir Bedeutung beimessen. Was wir wichtig – oder mehr noch: unverzichtbar – finden. Worüber wir uns oft sogar persönlich definieren. Wir halten uns für ehrlich, anständig, verlässlich, aufrichtig, christlich, weltoffen und so weiter. Unser Zusammenleben fußt auf gemeinsamen Werten. Bröckeln diese, ist das Zusammenleben in Gefahr.

Unsere Werte unterliegen seit einiger Zeit jedoch einem massiven Wandel. Pluralistische Gesellschaft. Vielfalt. Buntheit. Vermischung. Alte Grenzen fallen, während neue hastig hochgezogen werden.

Unmissverständliche Zeichen des Wassermann-Zeitalters, meiner bescheidenen Meinung nach. Zugleich erlebe ich eine fortschreitende Spaltung. In Alt und Neu, könnte man sagen. Das eine die 2000 Jahre alte, müde gewordene Fische-Energie, das andere die noch junge, gleichsam ungestüme Wassermann-Energie. Die Rückwärtsgewandten gehen noch ein Stück weiter zurück und klammern sich am Alten, Überholten fest, und die Vorwärtsgewandten drängen zu neuen Ufern, kennen den Weg aber noch nicht.

Die einen gehorchen der Angst. Die anderen überwinden sie.

Grundsätzlich ist diese Dynamik ja nicht neu. Schon immer war es die nachrückende Jugend, die vom Establishment als „Störenfried“ wahrgenommen wurde. Die Jugend hatte immer den Wunsch (und die Aufgabe), die Dinge weiterzubewegen. Nur dass die Spaltung jetzt nicht mehr zwischen Jung und Alt verläuft. Nein, die Spaltung ist heute eine Frage des Herzens. Auf welche Seite stelle ich mich? Halte ich fest oder lasse ich mich fallen?

Die neuen Ideen entstammen heute allen Ecken und Gesellschaftsschichten. Und meines Erachtens geht es nicht um komplettes Aufweichen aller Werte, sondern um einen verantwortungsvollen Umgang mit uns selbst und miteinander.

Genau das imponiert mir am polyamoren Lebensstil. Die Ehrlichkeit. Die Bereitschaft, sich auseinanderzusetzen. Die Bereitschaft, authentisch zu sein und sich eigenen Schatten zu stellen. Das hat enorm transformatives Potenzial. Um nicht zu sagen: Sprengkraft.

Ich selbst betrachte mich nicht als polyamor, obwohl man unsere Situation durchaus so nennen könnte. Aber ich identifiziere mich nicht mit dem Label. Ich liebe zwei Männer. Und drücke dies authentisch aus. So einfach ist das für mich. Erstmal.

Doch ganz so einfach ist das Ganze natürlich doch nicht. Hätte Euch auch schwer gewundert, oder? Also, wo ist das Problem?

Aus meiner Sicht haben wir es mit einer Reihe von Schwierigkeiten zu tun. Erstens: unser Verständnis von Liebe. Was Liebe ist und was sie sein darf. Oder eben auch nicht. (Kritische Frage: Braucht Liebe eine Erlaubnis?) Zweitens: unsere verlernte Fähigkeit, authentisch zu sein. Und drittens: unsere Angst. Gegen Regeln zu verstoßen. Belächelt oder gar geächtet zu werden. Als schwach, dumm oder sogar gefährlich betrachtet zu werden. Verurteilt zu werden.

Inquisition in uns

Doch die eigentliche Inquisition findet immer in uns selbst statt. Wir haben gelernt, unsere eigenen Schattenseiten auf unsere Gegenüber zu projizieren. Dort lassen sie sich dann ganz formidabel bekämpfen. Solange der andere ist (sein muss), was ich nicht sein will, hat alles seine sichere Ordnung. Und wenn er nicht sein will, was ich ebenfalls nicht sein will, dann bringe ich ihn eben dazu. Irgendwer muss die unbequeme Rolle doch spielen.

Dieses Phänomen kennen wir aus vielen Zusammenhängen. Andersartigkeit, Fremdheit, abweichendes Verhalten. Randgruppen oder Menschen, die wagten, es anders zu machen, hatten schon immer einen schweren Stand. Denn sie sind dafür prädestiniert, unser Sündenbock zu sein.

Der Narr in mir

So habe ich gestern eine interessante Entdeckung gemacht. Ich bin dem Narren in mir begegnet. Dem, der tödliche Angst vor der Lächerlichkeit hat. Verkörpert er diese doch, durch und durch.

Der Narr erfüllt jedoch eine wichtige soziale Funktion. Er sagt (und tut!), was andere nicht zu sagen wagen. Das darf er jedoch nur deshalb gefahrlos tun, weil er ein Ausgestoßener ist. Er gehört nicht dazu. Er wird gebraucht, ohne geliebt zu werden. Er wird stellvertretend verlacht. Benutzt.

Ich kämpfe schon lange mit diesem Narren in mir. Ohne dass es mir klar war. Mit der Angst davor, anders oder gar verrückt zu sein. Schräg. Deformiert. Hässlich. Und dumm. Weil andere meine Wahrnehmungen oft nicht teilen oder nachvollziehen konnten. Weil sie nicht verstanden, warum ich tat, was ich tat. Weil sie mich verurteilten.

Und dies führte dazu, dass ich mich selbst verurteilte. Ich schäme mich für den Narren in mir.

Altes durchbrechen – Vorangehen

Dualseelen sind meiner Überzeugung nach dazu da, Altes aufzubrechen und zu transformieren. Neues zu wagen. Das ist Teil dieses Knochenjobs. Mein Mann nannte dieses Neue „unerhört“. Geht denn das überhaupt? Kann, ja darf das sein?

Ja, es darf. Wenn wir es uns selbst erlauben. Mir fällt es noch immer schwer, mir dies selbst zu gestatten.

Was meine verlorene Zwillingsschwester betrifft, habe ich mir diese Erlaubnis endlich gegeben: zu wissen, dass sie bei mir ist. Auch wenn es keinen Zeugen dafür gibt. Keinen einzigen. Außer mir. Das hat die Wunde geheilt.

Was mein Sosein mit A betrifft, fällt mir diese Selbsterlaubnis noch schwer. Ein Teil von mir – ein ungeheilter – verurteilt sich selbst für diese Ungehörigkeit. Ich habe diese Seite von mir, von ihm, von uns noch nicht völlig integriert. Und er ebenso wenig.

Wir können noch nicht vollumfänglich zueinander stehen. Die Gefahr? Das Ausgestoßensein. Das Brandzeichen. Das scheint eine alte Geschichte zu sein.

Un–gehör–igkeit. Ich wage es, ungehorsam zu sein und auf mein Inneres zu hören. Ich wage es, für mich in Anspruch zu nehmen, erwachsen zu werden und die Kinderrolle hinter mir zu lassen. Ich bin dabei, meinen inneren und äußeren Autoritäten zu entwachsen. Selbstermächtigung heißt das Zauberwort. Aber das passiert nicht von heute auf morgen.

Sicherheit

Doch dafür braucht es Sicherheit. Innere und äußere. Wie ich kürzlich schon schrieb, musste diese erst wachsen. Drei Jahre hat es gedauert, bis A, T und ich begannen, uns in der neuen Situation etwas sicherer zu fühlen. Uns sicherer zu fühlen miteinander. Und in uns selbst. Nicht mehr komplett ahnungslos und überfordert. Panisch. Kindlich. Hilflos.

Verantwortungsvoller sind wir geworden. Und bewusster. Und wenn ich ganz genau hinhöre, betrachte ich mich sogar zu einer Avantgarde gehörig, die mühselig neue Wege bahnt. Nicht nur, was die Liebe betrifft. Das kann man ebenfalls kritisch beurteilen, wenn man möchte. Aber letztlich muss ich mit mir selbst im Frieden sein. In Frieden kommen. Dem Narr seinen Platz geben, über ihn lachen und ihn lieben.

Der Dualseelenweg kehrt alles, alles in und aus uns hervor. Das Schönste wie das Hässlichste. Mit meinem Narren bin ich noch nicht in Frieden. Aber immerhin habe ich schon anerkannt, dass es ihn gibt.