A. geht es beschissen. Seine chronische Erkrankung hat sich in den letzten paar Monaten drastisch verschlechtert, und seine Hoffnung ist fast völlig erloschen. Was bedeutet es, mit jemandem so eng verbunden zu sein, der bis zum Rand voll ist mit Trauma? Warum, zum Kuckuck, haben wir uns denn nun wirklich in diesem Leben getroffen?

Als ausgebildete Therapeuten hören wir immer wieder, und das völlig zu Recht, dass wir keine uns nahestehenden Personen behandeln sollen. So weit, so richtig. Aber was tun, wenn weit und breit keine andere Hilfe in Sicht ist? Was, wenn wir einen Schatz in Händen halten (das mühsam errungene und zerbrechliche Vertrauen des anderen und einen unfehlbaren Instinkt für das, was er verzweifelt vor aller Welt zu verbergen sucht) und uns die Zeit wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt?

Es wurde immer wieder beschrieben, dass manche Seelenpaare „Arbeitsteilung“ vornehmen. Der eine packt sich eine richtig fette Last auf die Schultern, und der andere hält die Fahne hoch.

Genau so fühlt es sich an.

Wählen wir unsere Aufgabe?

A. ist mit Abstand der Mensch in meinem Leben, der die größte Menge Scheiße angehäuft hat – nicht aus eigenem Verschulden, sondern weil er in eine unfassbar kaputte Familie hineingeboren wurde. Die Leute streiten sich ja, ob wir uns unsere Familien aussuchen. Ich habe immer daran geglaubt. Folglich glaube ich auch, dass A. (oder vielmehr seine Seele) in voller Absicht dieses Leben gewählt hat.

Leicht auszuhalten ist es dadurch noch lange nicht. Und einem Menschen, den man liebt, bei seinem Kampf zuzusehen, ist auch kein Vergnügen. Zumal er als Steinbock ein unglaublicher Sturkopf ist und es nicht gut wegsteckt, wenn sein Stolz in Gefahr ist.

Welche Lektion lehrt er mich gerade? Akzeptanz? Abgrenzung? In meine volle Kraft zu treten? Ihn gehen und sein zu lassen? All das – und vermutlich noch mehr.

Und was ist er aufgefordert zu tun? Fühlt er sich gewappnet, seinen Abgründen ins Gesicht zu sehen? (Seine erste Antwort war ein klares Nein). Kann ich ertragen, ihn aufgeben zu sehen?

Heilenergie

Vielleicht auch, um meine eigene Ohnmacht abzumildern, habe ich begonnen, ihm (und mir auch verstärkt) Reiki zu geben. Denn auch wenn wir über Therapie gesprochen haben, war mir klar, dass es Jahre für ihn dauern würde, genug Vertrauen in jemanden zu fassen, um ernsthaft mit ihm arbeiten zu können. Die Zeit bleibt ihm nicht. Wenn ein Umschwung überhaupt noch denkbar ist, muss er rasch – innerhalb der nächsten Monate – geschehen. Je tiefer er sich in den Sumpf manövriert, desto schwieriger wird es, sich daraus zu lösen.

Auch wenn ich die erste bin, die „Selbstverantwortung“ schreit, habe ich eingesehen, dass er mit seinen Kräften nicht mehr weit kommt. Doch er ist nicht allein. Lässt er zu, dass ich ihn stütze?

Die Kraft unserer Gedanken

Heute habe ich neben dem Reiki auch mit Visualisierungen gearbeitet. Er springt gut darauf an, ist doch sein ganzes Denken kreativ und bildhaft. Ihm fiel es leicht, sich in der Erde zu verwurzeln. Er sah einen Vulkan (der sein „Freund“ war) und Wasser, das seine Erde fruchtbar machte.

Nach oben, Richtung Sonne, konnte oder wollte er sich nicht verbinden. Das passt zu meiner Beobachtung, dass er immer einschlief, wenn ich beim Reiki spirituelle Themen berührte. Fast schien, als wolle er von dieser Dimension nichts wissen.

Spitz auf Knopf

Ob es reichen wird, ihn vor dem kompletten Absturz zu bewahren, weiß ich nicht. Es steht spitz auf Knopf. Vielleicht hat er auch schon, wie er selbst sagte, den „Point of no return“ überschritten.

Und doch glaube ich daran, dass Änderung und Heilung prinzipiell immer möglich ist. Oder sagen wir besser: die Entscheidung, sich umzuwenden. Das ist es, was seine astrologischen Charts glasklar zeigen: es bräuchte eine Kehrtwende um 180 Grad. Das Trauma (Lilith) versperrt ihm den Weg.

Wiedersehen

Nach mehreren Monaten Corona-begründeter Zwangspause habe ich gestern einen Flug für Ende Juli gebucht. Dass ich diese Reise trotz Maskenpflicht, gerade erst abgeschaffter Quarantäne und weiterer Einschränkungen antrete, sagt viel darüber aus, wie dringend es ist.

Unsere persönlichen Treffen haben uns immer nach vorne katapultiert – wenn auch die letzten Treffen sich etwas stagnierend angefühlt haben. Ich denke, der Grund ist: ich habe nicht alles gesagt, was ich dachte. Dinge zurückzuhalten, zerstört Nähe und macht einer Maske, einem Schauspiel Platz, das wir eigentlich angetreten waren, hinter uns zu lassen.

Drückt uns die Daumen

Wir können alle guten Wünsche, Heilenergien und sonstige Unterstützung gut gebrauchen. Er noch viel mehr als ich. Ich habe vor einiger Zeit einen gedanklichen Heilraum für ihn geschaffen und sämtliche Ahnen aufgefordert, sich an seine Seite zu stellen. Als ich das letzte Mal den Heilraum aufrief, sah ich vor meinem geistigen Auge rund 2000 Seelen. Sie waren alle gekommen, um ihm zu helfen. A. war berührt, als ich es ihm erzählte, und er sagte, er fühle sich nicht alleine.

Es war seinem von Tremor geschütteltem Kopf und seinem veränderten Gesichtsausdruck anzusehen, dass er sich sicher und geborgen fühlte. Das Zittern hörte auf, und plötzlich strahlte er Ruhe aus. Ich weiß, dass in solchen Momenten neue Bahnen im Gehirn entstehen.

Langer Rückweg

Doch ich weiß aus eigener Erfahrung auch, wie lang ein Heilweg – der immer auch eine Rückkehr ist – sein kann. Vielleicht ist der eigentliche Schritt, ihn überhaupt zu wagen.

Bisher hat er immer auf Vermeidung gesetzt. Und war willens, die „Schuld seiner Väter“ mit sich selbst ins Grab zu nehmen. Was meines Wissens nach nicht funktioniert. Ungeheilte Familientraumen und -geheimnisse haben die Tendenz wiederzukehren. Ich hielt es immer für einen Trugschluss, er könne die Sache einfach zu Ende bringen, indem er sich selbst opfert.

Bisher habe ich ihn von diesem Plan nicht abbringen können. Er meinte – zu Recht –, ich müsse ihm seinen eigenen Willen lassen.

Sprung ins Vertrauen

Mich hat er die letzten Jahre immer wieder an einen Abgrund gebracht. Und jedesmal stand ich vor der Frage: verlasse ich ihn jetzt und kehre um, oder springe ich?

Mit einem schwer traumatisierten Menschen so eng verbunden zu sein, ist kein leichter Job. Ich habe viele seiner Dämonen zu spüren bekommen.

Bisher habe ich jedes einzelne Mal erwogen, ihn zu verlassen. Und meine Motive kritisch geprüft. Nur um mich am Ende fürs Bleiben zu entscheiden.

Ich weiß nicht, wie weit wir es auf diesem Weg schaffen werden, und wann ich die Reißleine werde ziehen müssen, um nicht selbst unterzugehen.

Heute habe ich mich ihm nach zweitägiger Bedenkzeit erneut zugewandt, anstatt mich von seinen Geistern abschrecken zu lassen. Ich brauche meine Zeit, um solche Konfrontationen zu verdauen, aber ich bin inzwischen fähig, durch sie hindurch zu tauchen und sie auch körperlich abzuschütteln.

Mut

Doch es erfordert Mut, immer wieder. Und ich habe keine Ahnung, wie weit unser gemeinsamer Weg noch geht.

Drückt uns die Daumen. Das hier ist Schwerstarbeit. Und doch empfinde ich einen tiefen Sinn der Führung und Bestimmung. Auch wenn seine eigenen astrologischen Charts aktuell beschissen aussehen, verspricht unser gemeinsames Chart einen zarten Hoffnungsschimmer.

Es bedeutet etwas, was wir tun. Und ich bin fest überzeugt, dass es nicht vergeblich war. Sogar dann nicht, wenn er irgendwann sagt: „Ich kann und will nicht mehr.“

Wenn Ihr Euch berufen fühlt: zündet ein Licht für ihn an.